Artikel in der „WELT“ am 14.06.2023
Die hohen Energiepreise machen der Industrie in Deutschland zu schaffen, allen voran energieintensiven Betrieben wie Gießereien. Die fordern jetzt einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis – schnell und unbürokratisch. Mögliche Schließungen wären fatal für die Energiewende. Die Zusammensetzung mutet unfair an. „Politik trifft Wirtschaft“ heißt eine Diskussionsrunde am Rande der Metallmessen GIFA, Metec, Thermprocess und Newcast in Düsseldorf. Und auf dem dortigen Podium muss es Mona Neubaur, die Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, mit gleich fünf Vertretern aus Metall-Branchen wie Stahl, Anlagenbau oder Gießereien aufnehmen.
Wobei sich die Grünen-Politikerin von der Industrie-Übermacht nicht in die Ecke treiben lässt, angesichts von Themen wie Energiepreise, Bürokratiebelastung oder Deindustrialisierung. Im Gegenteil: Es herrscht sogar weitgehend Einigkeit zwischen beiden Seiten.
Neubaur jedenfalls zeigt viel Verständnis für die Belange der Wirtschaft und redet von Planungssicherheit, die geschaffen werden muss, damit Unternehmen handlungsfähig bleiben und wieder investieren. Zudem positioniert sie sich offensiv mit dem Willen, einen Industriestrompreis zu etablieren.
Bei den Industrievertretern kommt diese Einstellung gut an. Gleichwohl dämpft Neubaur die Erwartungen direkt wieder und verweist dabei auf die beiden anderen Parteien in der Bundesregierung, also auf FDP und SPD.
„Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch: Wir wollen einen Industriestrompreis, finanziert über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds“, sagt die stellvertretende NRW-Ministerpräsidentin. „Ich nehme allerdings nicht wahr, dass Bundesfinanzministerium und Bundeskanzleramt das für eine gute Sache halten und sich an einer Lösungsfindung beteiligen.“
Für Ärger sorgt das zum Beispiel bei den Gießereien in Deutschland. Die rund 600 Unternehmen der vorwiegend mittelständischen Branche bangen auf Grund der hohen Energiepreise um ihre Existenz. „Wir verlieren mittlerweile reihenweise Aufträge“, berichtet Clemens Küpper, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Gießerei-Industrie (BDG), im WELT-Gespräch. Kunden würden zunehmend bei Konkurrenten im Ausland bestellen, allen voran in der Türkei und in Polen, aber auch in Frankreich und in China. Denn dort seien Strom und Gas so viel günstiger, dass nicht mal die zusätzlichen Logistikkosten ins Gewicht fallen.
Wichtige Rolle in den Wertschöpfungsketten
Vor allem die Produktion von Großserien findet Küpper zufolge jenseits der Grenze statt. Gemeint sind Bestellungen von Bauteilen ab einer Menge von 100.000 Stück. „Wir machen uns in Deutschland gerade angreifbar und verletzlich“, beklagt der Unternehmer. „Denn an solchen Aufträgen hängen Investitionen auch für die Auftraggeber. Die kommen also nicht so schnell wieder zurück, wenn überhaupt.“
Tatsächlich spielen Gießerei-Produkte in etlichen Branchen eine wichtige Rolle in den Wertschöpfungsketten. „Guss taucht fast überall auf“, sagt BDG-Hauptgeschäftsführer Max Schumacher und nennt unter anderem Autos, Maschinen, Antriebe, Haushaltsgeräte, Medizintechnik oder auch Windkraft- und Solaranlagen sowie Heizungspumpen.
„Unsere Branche ist elementar für die Energiewende“, erklärt Schumacher. Diese Arbeit ist allerdings äußerst energieintensiv. Vor der Corona-Zeit lag der Energiebedarf der sogenannten Kupol- oder Induktionsöfen nach Verbandsangaben bei 13 Terawattstunden, das sind umgerechnet 13 Milliarden Kilowattstunden.
Bei diesen Größenordnungen macht sich jeder zusätzliche Cent beim Strom- und Gaspreis bemerkbar. „Aber wir reden ja nicht über ein paar Cent, die es teurer geworden ist: Der Sprung ging zuletzt von drei Cent auf 42 Cent“, berichtet BDG-Präsident Küpper, der im Hauptberuf die Eisengießerei Baumgarte in Bielefeld leitet. „Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis – und zwar schnell und unbürokratisch.“ Es dürfte nicht wieder zu irgendwelchen Antragsschlachten kommen oder zu Lösungen, bei denen die Kriterien im Nachhinein verändert werden. „Wir brauchen Planungssicherheit.“
Unterstützung bekommt die heimische Gießerei-Industrie, die aktuell weltweit noch als viertgrößte ihrer Art gilt, von der Gewerkschaft IG Metall. „Gibt es nicht schnell einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis für die energieintensive Industrie, dann gehen die Lichter aus. Und das nicht, weil Strom fehlt, sondern weil er nicht mehr bezahlbar ist“, warnt Jürgen Kerner, Hauptkassierer und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.
Die Arbeitnehmervertreter fürchten das Aus für viele Gießereien und damit für Tausende gut bezahlter Industriearbeitsplätze, von denen es aktuell rund 70.000 in der Branche gibt. Zumal die meisten Betriebe lediglich einen Standort haben. Und wenn der nicht mehr wirtschaftlich ist, fällt nicht nur eine Betriebsstätte weg, sondern das komplette Unternehmen.
Gerade in Windkraftanlagen sind etliche Gussteile verbaut
Dazu komme ein strategisches Problem. „Wenn es dann keine Gießereien mehr gibt in Deutschland, sind wir noch abhängiger vom Wohlwollen anderer. Dann sind wir abhängig von Grundstofflieferungen aus dem Ausland. Und wie schnell diese Lieferungen ausbleiben können, haben Corona und der Krieg gezeigt“, sagt Kerner.
Industrievertreter Küpper führt die bislang fehlende Unterstützung seitens der Politik zum einen auf Unwissen zurück. „Politiker können sich oft überhaupt nicht vorstellen, was wir machen und wofür das wichtig ist“, sagt der Unternehmer. Zum anderen gebe es ein grundsätzliches Misstrauen und vor allem viel Ideologie, vor allem im Bundeswirtschaftsministerium. „Dabei sind wir es, die eine Energiewende erst möglich machen.“ In Windkraftanlagen etwa seien etliche Gussteile, angefangen bei Wellen zur Kraftübertragung über Narben bis hin zu Maschinenträgern. „Wenn diese Teile im Ausland gefertigt werden, haben wir keinen Einfluss mehr auf den CO₂-Fußabdruck“, warnt Küpper vor dem sogenannten Carbon Leakage-Effekt, also der Verlagerung von Emissionen. „Dem Klima ist damit nicht geholfen – im Gegenteil.“ Gleichzeitig seien auch andere Standards vielfach nicht mehr überprüfbar oder beeinflussbar, etwa Umweltauswirkungen oder das Thema Arbeitssicherheit.
Und gerade beim Thema Windkraft hat China mittlerweile den Weltmarkt erobert. „Dorthin wandern die Aufträge“, sagt BDG-Geschäftsführer Schumacher. Gleichzeitig hätten darauf spezialisierte Gießereien an der Küste hierzulande schließen müssen. „Dabei müssten wir eigentlich fünf Werke und Schmelzöfen an den Küsten bauen, um den Windkraftausbau dort voranzutreiben.“ Stattdessen habe sich die Kapazität bei diesem Thema hierzulande halbiert. Und das hat Folgen. „Wir wären mittlerweile nicht mehr in der Lage, eigenständig genügend Komponenten für den Windkraftausbau zu liefern.“
Ministerin Neubaur verspricht derweil, im politischen Berlin nochmal für die Gießereien und die Metallbranchen insgesamt zu werben. „Es ist klar, dass wir ins Handeln kommen müssen.“ Sie jedenfalls werde NRW als industrielles Herz in Europa nicht einfach aufgeben.
Von Casten Dierig (Wirtschaftskorrespondent)